Words

Übers im Vorbeigehen

, Agnes Müller zu Public Picture #2 – pacing and passing, 2019

„Schaut man zu den Fenstern hinaus, erscheinen sie wie riesige Fernseher, in deren Programm die Realität läuft. Die Fensterfront des Leerstandes ist an einer Straßensituation gelegen, die aus allen Himmelsrichtungen Passantinnen zusammenführt. Hier kreuzen sich die Gehwege der Viktoriastraße und der Berliner Promenade. Entlang der Viktoriastraße gehen die Passantinnen vorrangig Zielwege. Meist zügig, (den Ankunftsort) in Gedanken schreiten sie entlang; wie auf einer Autobahn herrscht zur Rushhour großer Verkehr. Nicht der Weg ist hier das Ziel, sondern die Arbeitsstelle, die Mittagspause oder die zu tätigende Besorgung. Im Gegensatz dazu gehen die Menschen auf der Berliner Promenade meist gemächlicher voran. Städteplanerisch gedacht als Meile des Flanierens ist diese an der Kreuzung nur noch als Ausläufer zu verstehen. Diese zwei Arten des Passierens, das eilige Schreiten und das Flanieren, sowie der Fluss der Autofahrerinnen im Straßenverkehr werden durch eine Fußgängerampel getaktet. So kommt es zu Momenten, in denen zufällige Gruppierungen von Menschen erzeugt werden, die dadurch zu gemeinsam Wartenden und Gehenden werden. Jede Vorbeiziehende wird unweigerlich zu einem Exempel. Aussehen, Gangarten, Kleidung sind Attribute, die in ihren Kombinationen plötzlich ins Augenmerk fallen und wie gestaltete Bilder des Alltags wirken. Es sind Szenerien geschaffen durch urbane Dynamiken, die jeglicher inszenatorischer Arbeit trotzen.“ (Mai 2019)

Aus diesen Beobachtungen speise ich meine Ideen für Public Picture #2. Die körperliche Tätigkeit des Gehens greife ich in ihrer Beiläufigkeit als performatives Element auf. Es wird durch drei Performerinnen unmittelbar hinter der Fensterscheibe eine Woche lang auf reduzierte Weise inszeniert. Jede der Performerinnen geht auf einem elektronisch betriebenen Laufband, dessen Geschwindigkeit sie mit einer Fernbedienung individuell einstellen. Ein Performanceslot dauert zwei Stunden und findet ein- bis zweimal am Tag statt. Im Laufe der Woche wird das Schaufenster zu unterschiedlichen Tageszeiten zwischen morgens und spät abends bespielt, um eine möglichst hohe Varianz an Passantinnen, Lichtsituationen und Stimmungen, die das Public Picture #2 beeinflussen zu erzeugen. Das performative Gehen verläuft ohne dramaturgischen Spannungsbogen, die Geschwindigkeiten verändern sich kaum. Parallel zu den Laufrichtungen der Passantinnen fügen sich die Performerinnen so als stilisierte Versionen dieser ein. Ihr Gehen führt sie im Gegensatz dazu jedoch nicht weiter. Der zurückgelegte Weg bleibt immer eine Schrittlänge lang. Blicken die Passantinnen in das Schaufenster, erkennen sie dahinter ihre durch die Performerinnen entlehnten Bewegungsabläufe. Gleichzeitig werden die Passantinnen und ihre Umgebung durch die Spiegelung des Fensters Teil des Bildes. Dieses Irritationsmoment löst meist eine Verlangsamung oder Unterbrechung des Ganges der Passantinnen aus, sodass die urbane Dynamik durch die inszenierte Bewegung hinter dem Fenster beeinflusst wird.

Dieselbe performative Situation ist zugleich vom Rauminneren beobachtbar. Feine Differenzen und unüberwindbare individuelle Züge im Gehen der Performerinnen werden durch die immer gleiche Wiederholung der Schritte auf den Laufbändern und durch ihre Nebeneinanderstellung deutlich. Gleichzeitig wird der öffentlichen Raum, der durch die Fenster zu sehen ist, zum Bildhintergrund. Als eine Art bewegtes Bühnenbild zeigt es die dynamische Straßensituation mit ihren Passantinnen in städtischer Kulisse. Die gehenden Performerinnen setzen sich wie eine geloopte Bildsequenz vor die fixierten Bildausschnitte der Fenster, hinter denen die Passantinnen vorbeiziehen. All die von mir beschriebenen Beobachtungen werden somit in das Bild integriert, ohne dabei einzelne Passantinnen explizit zur Schau zu stellen. Public Picture #2 wird zu einem durchlässigen Bild mit zwei gleichwertigen Schauseiten, dessen Bildraum sich in drei Ebenen gliedert. Einerseits der öffentliche Raum, dessen Grenzen nicht klar abzustecken sind und anderseits der halböffentliche Raum im Inneren des Gebäudes. Dazwischen schiebt sich der künstliche Zwischenraum mit den agierenden Performerinnen. Diese artifizielle Zwischenebene ermöglicht es die bestehenden und spezifischen Situationen des Ortes als Teil des Bildes zu integrieren.

Einsichten durch Aussichten

, Ferdinand Stoll zu Public Picture #2 - pacing and passing, 2019

Im Gehen lässt man etwas hinter sich, weil man sich nach vorne bewegt. Jeder Schritt ein Augenblick, ein Schritt in der Zeit. Nirgends sonst, bei keiner anderen Tätigkeit, verknüpft sich das Erleben, drücken sich das Vergangene und das Zukünftige im Gegenwärtigen derart deutlich aus. Was dabei entsteht, sind stetig neue Eindrücke, die sich dem Gehenden im Raum erschließen, Gedanken, die sich flüchtig in das Alltägliche einfügen. Mit der Bewegung des Körpers in der Stadt, auf Gehwegen und Promenaden, auf Brücken und Übergängen manifestiert sich eine Überschneidung zwischen verschiedenen Ebenen, entwerfen sich Konstellationen zwischen Körper und Raum. Diese Konstellationen bringen sich immerzu fließend zum Ausdruck und fordern die Bewegung nach vorne.

Ist das Gehen oder Treten auf der Stelle nicht bloße Metapher, sondern verwirklichte Tätigkeit, so ist sie künstlich erzeugt. Die Gehenden, die Performer, stellen so Fragen in die jeweiligen Räume und ihre Umgebung, die durch das Dispositiv des Raumes vermittelt, schließlich aber durch die Körpersprache artikuliert werden. Wo geht es hin, und was ist eigentlich an dieser Stelle, an der sich ein wie auch immer gestaltetes Wo befindet? Wo ist die Grenze, insofern es sie gibt, zwischen einem Innen und einem Außen?

Erste Hinweise geben die Performer selbst. Auf den Laufbändern vor der Fensterfront, wo der Tritt in fortlaufender Wiederholung dieselbe Stelle trifft, ist das Gehen performativer Akt, der nicht ziellos, sondern wegweisend ist. Streift der Blick des Betrachters die Performer, scheint es tatsächlich, als seien sie Wegweiser. Sie verweisen von innen nach außen, von außen nach innen. Sie sind ein Spiegel, der durchlässig in beide Richtungen deutet.

Durch die Anordnung der Performer im Raum konstituiert sich so eine Schwelle, ein Zwischenbereich, der von dieser richtungsweisenden Durchlässigkeit gekennzeichnet ist. Diese Schwelle wiederum widersetzt sich Grenzordnungen und offenbart sich vielmehr als fluides Grenzsymbol, das als offene Frage nach innen und außen formuliert ist. Wird diese Frage erkannt, entstehen Irritationen, denn sie umfasst Ungewohntes, nicht Alltägliches. Es ist eine bewusst provozierte Koinzidenz, bei der das Zusammentreffen von zwei ungleichen Ereignissen stattfindet, die weder geplant noch vorhersehbar sind. Die daraus entstehende Doppelung findet sich vielgestaltig in den Konstellationen wieder, die durch das performative Gehen auf der Schwelle hervorgerufen werden, denn dieses Gehen hinter den Fenstern verdoppelt den Raum, bildet einen Bruch und zugleich eine Öffnung, zu beiden Seiten hin; Grenzformationen werden sichtbar.
Die Überbrückung erfolgt durch den Blick, der durch die Performer hindurch auf die jeweiligen Räume fällt. Er ist Verbindungsstück über die Schwelle hinaus, indem er die Kluft zwischen innen und außen überbrückt und versucht, eine Antwort auf die Frage zu finden, die sich ihm stellt.

Wird der Blick nun im Innern des Raumes auf die Performer gelenkt und in der Folge an ihnen vorbei durch die Fenster nach außen auf das Alltägliche geschaut, treten bewegte Bilder hervor, die von Fenstern eingerahmt, auf das kinematographische Reproduktionsmedium verweisen, auf Filmstreifen. 24 Bilder pro Sekunde, die für sich stehen; verbunden ergibt sich auch ihr Zusammenhang in der Bewegung, im Fortgang der Einzelbilder. In diesem Fortlauf fällt der Takt der Schritte hörbar mit den in Bewegung gesetzten Körpern zusammen, die auf der Schwelle gehen. Augenfällig ist der Zusammenhang bestimmt, diese Doppelung aus Gehenden und Vorbeigehenden, aus Zwischen- und Außenraum, während der Fokus der Ausrichtung des Betrachtenden unterliegt, dessen Blick aus dem Innenraum über Grenzen hinaus Aussichten des Alltäglichen entdeckt.

Dort, im öffentlichen Raum, ist der Passant Betrachter, der irritiert ist oder seinen gewohnten Gang geht, der von außen nach innen blickt oder weiterzieht.

Wird der Blick den Performern, den Gehenden auf der Schwelle, zugewandt, kann aus der Irritation ein Dialog entstehen; der alltägliche Fortgang ist für Augenblicke durchbrochen, die Frage aufgenommen und weitergetragen. Während die Perspektive von innen auf die Performer räumlich begrenzt und bewusst gewählt ist, ist schließlich der Blick der Passanten ein zufälliger, der Variablen des Alltäglichen im öffentlichen Raum unterliegt: Die Position und der Abstand zu den Fenstern und den Performern werden selbst bestimmt, auch Tageszeit und Lichteinfall beeinflussen das Bild, das sich dem Passanten erschließt.

Verzerrt gibt der Blick in das Fenster das Straßenbild wieder, auch Gebäude im Rücken und die wechselnden Leuchtzeichen der Ampel werden eingefangen in sich überlagernden Spiegelungen. In diesem Blick fallen Innen- und Außenraum zusammen und verdichten die verschiedenen Bilder zu einem, wenngleich undeutlichen und verschwommenen. Die Grenze ist für den Moment in Frage gestellt, doch in der Doppelung drückt sich der kurzweilige Dialog aus, der durch die Sichtbarmachung im Innern hervorgerufen wurde.

Es bleibt die Erkenntnis: Abbilder formieren und lösen sich wieder auf in der Flüchtigkeit des Alltags. Die Irritation hält an, oder bleibt unbeachtet. Die Passanten ziehen weiter und folgen ihren Weisungen, während die Performer unaufhörlich weitergehen. Sie haben Fragen in Räume formuliert, haben angesprochen, ohne laut zu werden, und selbst die Antwort gegeben: Der Dialog zwischen innen und außen ist ein möglicher, einer, der sichtbar und vieldeutig über Grenzformationen hinausweist.

Läuferinnen

, Agnes Müller zu Maria Seitz’s Mulitcolor-Zeichnungen, 2022

Die Laufbahn ist bestimmt, der Start kontrolliert. Als Läuferin prescht die Linie euphorisch das Blatt hinab. Sie zögert und ziert sich nicht, sondern zeigt sich in ihrer vollen Pracht. Auf der Geraden dreht sie sich und bringt hervor, was in ihr steckt. Mit Schwung läuft die Linie aus. Es folgt ihr eine Läuferin nach der anderen. Die eine löst die Vorherige ab, hängt sich dicht daneben. Jede tut es der anderen gleich, indem sie in ihrem eigenen Spektrum rotiert und sich zur Schau stellt.

Im Nebeneinander verbinden sich die Läuferinnen. Bahn für Bahn wachsen ihre zurückgelegten Strecken zur Fläche. Die Fläche spannt sich vor das Blatt und wird von ihm gehalten. Zur Staffel treten Verläuferinnen hinzu. Ungeachtet der Bahnen ihrer Kolleginnen formieren sie entlang derer Farbverwandtschaften bewegliche Felder. Als vage Grenzgängerinnen erzeugen sie Unruhe. Sie verlaufen sich in hellen und dunklen Partien, die sich ineinander schieben. Sie gehen von einem Farbfeld ins andere über, wandern unscharf über die geraden Linien hinaus. Die Verläuferinnen bringen die Fläche zum Schillern und zum Schwingen.

Aus der Distanz zeigt sich ein lustvoll freudiges Spektakel aller Beteiligten. Im Verbund bilden sie eine leuchtende Oberfläche. Diese wird zum Vorhang, dessen unstetig glänzende Wellen im Licht schimmern – schleierhaft und lockend. In diesem Schillern steckt der Zwiespalt und so drängt sich ein Verlangen auf, in diese Dichte und dubiose Durchlässigkeit vorsichtig hineinzugreifen, um einen Teil von ihr zur Seite zu schieben und sie zu öffnen.

Doch im Dahinter liegt kein verstecktes Spiel. Der Vorhang selbst ist das Ereignis, das er verspricht. Die Läuferinnen schillern für sich, sie sind in ihrer vollen Pracht ambig. Das Klarumrissene und Abgegrenzte kommt ins Schwanken, bewegt sich hin und her, fängt an zu flirren. Im Nebeneinander und Umherwandern zeigt sich immer fort der Wandel.

Tjurip

, Prof. Dr. Hartmut Wagner zu Performances in der Ausstellung Tjurip, Saarbrücken, 2017

[…] Auch Agnes Müller widmet sich der lokalen Verfasstheit des Arbeits- und Ausstellungsraums. Doch verzichtet sie gänzlich auf materielle Notationen, sondern widmet sich ganz und gar dem Verhältnis vom eigenen Körper und dem diesen umgebenden und präformierenden Raum. Der Raum wirkt hier als Versprechen, als ein Möglichkeitsfeld für Gleichzeitiges und Ungleichzeitiges, als Aufmarschgebiet von Domestikation und Freiheit, von Geometrie und Leere. Sie inszeniert ein Spiel mit der Präsenz und der Absenz, mit der Assoziativität und der Monotonie, mit der Zeit und der Bewegung. Sie versucht sich den Raum, der eine Fläche von ca. 600 m² umfasst, im Einzelnen zu erfassen und ein genau austariertes Raumbewusstsein zu entwickeln. Dadurch schafft sie einen Moment der Präsenz: Der Raum erschließt sich nicht aus sich selbst heraus, sondern in seiner körperlichen Eroberung, aber auch in seiner medialen Aneignung.

Insgesamt präsentiert sie drei Werke: zwei Videoarbeiten und eine Performance, die über die Dauer der gesamten Präsentationszeit stattfindet. Der Arbeitsraum erweitert sich zum Ausstellungsort. Die beiden Videoarbeiten wurden am Rande des riesigen Areals in einem nischenartigen Seitenraum präsentiert. Eine Arbeit ohne Titel fängt einen Bewegungsablauf ein, bei dem sich eine in Bauchlage auf dem Boden liegende Person langsam erhebt, ohne die Verbindung mit dem Boden zu unterbrechen, lediglich der Hüftbereich agiert. Assoziativ soll dadurch der sprachlich zu erschließende Bedeutungshorizont von 'Erhebung' als geometrisches, symbolisches, politisches, soziologisches, psychologisches, geographisches etc. Phänomen zum Ausdruck gebracht werden. Auch die zweite Videoarbeit mit dem Titel »lie down stand up« greift das Moment körperlicher Entäußerung in einer gewissen Analogie zu der anderen Videoinszenierung auf. Bewegungen im Raum, die sich gleichsam als Movens an sich von ihrem Bewegungsträger im Raum distanzieren, schaffen eine eigentümliche raumzeitliche Konstellation, die sich sozusagen im Dunkel des gelebten Augenblicks vollzieht. Schlussendlich fügt sich die in den Videoarbeiten festgehaltene Bewegungsenergie in die Performance »walking in between« als narrative Verlängerung an. Hier nimmt die Inszenierung eine limitiertere Choreografie an und erzählt die eigentümliche Geschichte eines erwartungslosen Erwartens. [...]

Public Picture

, Agnes Müller zur Projektreihe Public Picture, 2018

Die Projektreihe Public Picture nutzt Schaufenster für performative und visuelle Bespielungen. Dabei werden öffentliche Bilder erzeugt, die sich auf meist beiläufige Weise ihrem Publikum präsentieren.

Das Schaufenster, als fester Bestandteil des urbanen Raumes, ist gewöhnlich ein Bild, das durch die Inszenierung eines Produktes Begehren schafft. Ein Public Picture enthebt das Schaufenster seiner eigentlichen Funktion und macht sich seine medialen Charakteristika von Bildfläche, realem Bildraum und öffentlicher Verortung zu eigen, um Situationen und Bildern des Alltags eine theatrale Bühne zugeben. Als ephemere Bildkonstruktion erscheint ein Public Picture für einen begrenzten Zeitraum im öffentlichen Raum. Es gestaltet sich aus Beobachtungen städtischer Szenen, aus einer spielerisch-experimentellen Auseinandersetzung mit jeder neuen Verortung im Stadtraum und den dazugehörigen situativen Begebenheiten.

So wird jedes Public Picture zu einem in die städtische Szenerie eingebetteten Irritationsmoment, der mit Sehgewohnheiten bricht, der gefallen oder übersehen werden kann. Vorbeigehende Passantinnen und Betrachterinnen werden oft als bildgestalterisches Element mitgedacht. Sie sind wie das inszenierte Schaufenster Teil einer urbanen Ästhetik, die von Architekturen, Fassaden und Dynamiken geprägt ist und deren Bildgrenzen mehrdeutig bleiben.

Die Projektreihe ist auf unbestimmte Zeit angesetzt und offen für Kooperationen mit Künstlerinnen aus fachnahen und -fernen Disziplinen.

Poolside Studies

, Agnes Müller zur künstlerischen Feldforschung Poolside Studies, 2020

Poolside Studies ist eine künstlerische Feldforschung. Ihr Gegenstand sind Dynamiken und Wirkmächte des Sehens und Beobachtens sowie des Gesehenwerdens an als Badeanstalt markierten Orten (Freibad, Strandpromenade, Pools) im öffentlichen wie im privaten Raum. Gleichzeitig richten sich der Blick und der künstlerische Umgang auf die darin zu findenden Körperkonstellationen, Raummarkierungen und (un-)sichtbaren Grenzziehungen. Poolside Studies ist in weiten Teilen eine Kooperation mit der Künstlerin Clarissa Kassai.

Bei Recherchen vor Ort bleibe ich meist in der Rolle der stillen Beobachterin, die zwar Teil der Szenerien, Bilder und Markierungen vor Ort sind, diese aber zu erfassen, zu greifen und festzuhalten versucht. Wie und durch welche Markierungen wird Raum organisiert, strukturiert, verboten, geboten, behauptet, privat, erobert und geteilt? Anhand alltäglicher Elemente und Gegenstände wie Liegestühle, Handtücher, Sonnenschirme, Bänke, Zäune, Markisen, Schilder und Geländer lassen sich zusammen mit den darin agierenden und sich bewegenden Körpern die obigen Raumfragen beobachten und beantworten. Gleichzeitig sind es die mit den Orten der Badeanstalten verbundene Körperlichkeit, Körperkonstellationen, Verhaltensweisen, Haltungen und Gesten, die ich an unseren Rechercheorten studiere. Die Besucher*innen ziehen sich aus, sie verlieren ihre Uniform. Am Strand oder im Schwimmbad sind Dinge erlaubt, die es sonst nicht sind. Der Raum hat für alle spezielle Codes.

Daran schließt sich der Aspekt der Raummarkierungen an, welche Form diese annehmen können und wie sie auf die umgebenden Körper wirken. Eine Markierung von Raum kann als sichtbare oder unsichtbare, aber wahrnehmbare Grenzziehung verstanden werden. Johannes Cladders Worte zu Stanley Brouwns Arbeiten: »Räume sind Markierungen eines Ausschnitts von etwas, das kosmisch weit vorhanden ist, Dauer ein Ausschnitt aus ständig sich Ereignendem.«(1) schafft ein tieferes Verständnis für meine Auseinandersetzungen, ebenso die folgenden: »Wir nähern uns, indem wir Grenzen setzen – und doch geht beides nur durch uns hindurch.«(2) Ich betrachte dabei sowohl die Haut des menschlichen Körpers als auch den Schatten eines Sonnenschirmes als Raumgrenze und -markierung. Auch wenn der Strandurlaub im Ausland andere Assoziationen weckt als der Nachmittag im nächstgelegenen Freibad, sind es Wärme und Abwesenheit von Arbeit, die typisch für sie sind. Souvenirs erinnern, verblassende Sonnenbräune hält eine Zeit lang noch als Andenken auf der Haut und der Duft von Chlor und Frittenfett markieren auf olfaktorischer Ebene Erinnerungsorte mit sentimentalem Charakter. Daraus leite ich unter anderem die künstlerischen Fragestellungen nach einer Konservierung der Sommerzeit ab und die Vermittlung von Orten in neuen räumlichen und zeitlichen Kontexten.

Im gemeinsamen Sprechdenken mit Clarissa Kassai werden in Ping-Pong-artiger Manier Beobachtetes geschärft, gefasst und nach künstlerischen Übersetzungen gesucht. Hier stellen sich dringliche Fragen: Wie können diese Beobachtungen in eine künstlerische Produktion überfließen? Wie können Beobachtungen des Alltags sichtbar werden, ohne Personen vorzuführen oder gar Normalität und Alltägliches inszenieren zu wollen? Wie kann ein künstlerischer Zeigefinger auf das Vorhandene aussehen, ohne plump zu sein? Durch welche Medien lassen sich eingefangene Bilder, Atmosphären, Bewegungen und Konstellationen übertragen oder weiter formulieren? In einem Archiv werden die künstlerischen Recherchen und Werke in ihrer medialen Spannweite fortlaufend gesammelt.

(1) Jens Asthoff: Stanley Brouwn. Bücher und Ephemera, Bd. 182, 2006, S. 309.
(2) Ebd., S. 309.